US-Historiker Ibram X. Kendi erzählt, wie er Antirassist wurde (2024)

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Der US-Historiker Ibram X. Kendi erzählt, wie er vom Rassisten zum Antirassisten wurde. Sein Buch beruht auf einer amerikanischen Sicht, die im europäischen Kontext an Grenzen stösst.

Martina Läubli

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US-Historiker Ibram X. Kendi erzählt, wie er Antirassist wurde (1)

Als Achtjähriger entdeckte Ibram X. Kendi das Basketballspielen – und die Ängste seiner Eltern. Sie liessen ihn nur ungern draussen in Queens, New York, spielen, weil sie Angst hatten, er könnte erschossen werden. Auch in der Schule bekam er zu spüren, dass er schwarz war: Schwarze Kinder sassen hinten und wurden von der Lehrerin nie aufgerufen. Rassismus erlebte der amerikanische Historiker von klein auf.

Dass er selbst auch rassistisch dachte, bemerkte er aber erst später.

Vor Rassismus ist niemand gefeit. Auch nicht, wer ihn als Afroamerikaner am eigenen Leib erlebt. Das ist die Kernbotschaft von Kendis neuem Buch «How to Be an Antiracist». Es ist weniger eine Anleitung als ein Selbstbekenntnis und kombiniert die eigene Lebensgeschichte mit politischer und historischer Analyse und Predigtpassagen. Kendi erzählt wissens- und erfahrungsgesättigt, allerdings nicht immer stringent.

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Nicht ohne Pathos vergleicht er Rassismus mit Krebs – er war selbst an Darmkrebs erkrankt und hat überlebt. «How To Be an Antiracist» steht seit einem halben Jahr auf der Bestsellerliste der «New York Times» und erscheint in diesen Tagen auf Deutsch.

Die Macht eines Trugbildes

Im Jahr der «Black Lives Matter»-Proteste ist das Informationsbedürfnis zu Rassismus hoch. Bücher wie «Between the World and Me» von Ta-Nehisi Coates und «White Fragility» von Robin DiAngelo sind Longseller. In dieser Debatte ist auch Ibram X. Kendi eine einflussreiche Stimme. Seine Autorität hat er sich mit dem Werk «Gebrandmarkt» erschrieben, in dem er die Geschichte des Rassismus in den USA aufgearbeitet hat.

Kendi sei dabei durch «über fünfhundert Jahre toxischer Ideen über schwarze Menschen» gewatet. Die Ursachen des Rassismus sieht der Historiker primär in wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Machtinteressen und weniger in Hass und Unwissenheit. So sei das Interesse, Kapital anzuhäufen, der Hauptmotor des transatlantischen Sklavenhandels gewesen – und die Sklaverei ein Hauptfaktor für den wirtschaftlichen Erfolg Amerikas.

Die Diskriminierung der Afroamerikaner dauert, wie alle Indizes zu Gesundheit, Kriminalität und Einkommen zeigen, an. Dazu halten sich Vorurteile, die auch Kendi zum Rassisten machten, hartnäckig. Er wuchs mit der Vorstellung auf, schwarze Jugendliche seien weniger lernfreudig als weisse. In einer Rede in der Highschool rief er seine Mitschüler dazu auf, mehr zu lernen. Und sich selbst hielt er zuerst für «zu doof» für die Universität.

«Das Konstrukt Race ist ein Trugbild, eine Fata Morgana, die jedoch nicht weniger mächtig ist.»

Dass Kendi den Rassismus an sich selbst feststellt, statt ihn den anderen zuzuschieben, ist der Vorzug seines Buches. Rassistische Vorstellungen – also «jede Vorstellung, die andeutet, dass eine ‹racial Gruppe› einer anderen in irgendeiner Hinsicht unterlegen oder überlegen ist» – werden grösstenteils unbewusst übernommen. Sie bilden die Realität nicht ab, sondern schaffen sie erst: «Das Konstrukt Race ist ein Trugbild, eine Fata Morgana, die jedoch nicht weniger mächtig ist. Wir sind das, was wir in uns sehen.»

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Die Realität wiederum, in der Kendis Buch entstanden ist, ist unübersehbar eine amerikanische – eine Realität, in der Kinder in die Unterscheidung Schwarz/Weiss hineingeboren werden, die sich als nahezu absolutes Deutungsmuster über die Welt legt. Eine Realität, in der gute Bildung Privatsache ist. Eine Realität, in der die Kategorie «Race» das Schicksal jedes Einzelnen prägt.

Der englische Begriff «Race» wird in der deutschen Übersetzung von Alina Schmidt so übernommen, es ist auch die Rede von «racial Gruppe» und «racialized». Das ist symptomatisch für den Mechanismus, den man bei vielen Debatten beobachten kann: Ein amerikanischer Diskurs wird auf Europa übertragen, ohne den spezifischen historisch-politischen Kontext zu reflektieren.

Natürlich kann man «race» nicht mit dem deutschen Wort «Rasse» übersetzen, denn damit verwiese man ja auf die Rassentheorien, die im Zentrum der nationalsozialistischen Ideologie standen und die pseudowissenschaftliche Begründung für den Massenmord an Juden und anderen lieferten. In Europa ist das Menschheitsverbrechen der Shoah vom Begriff der «Rasse» nicht zu trennen. In den USA hingegen wird «Race» von den Behörden weiterhin verwendet, etwa bei der Volkszählung.

Weisse haben Weisse versklavt

Was aber meint nun der Begriff der «Race» auf Deutsch? Meint er, wie von Kendi intendiert, ein «gesellschaftliches Machtkonstrukt ineinander übergehender Unterschiede», also ein abstraktes Konzept? Ist «Race» durch Körpermerkmale wie Hautfarbe definiert? Was ist mit dem Begriff gewonnen? Trägt er nicht zur Bildung neuer Stereotype bei? Wo bleiben die Zwischentöne jener, die sich weder als schwarz noch als weiss sehen? Das bedarf der Diskussion.

In der Geschichte Europas haben mehrheitlich Weisse Weisse unterdrückt, diskriminiert und versklavt. Das zeigen zum Beispiel der Antisemitismus, die Politik gegenüber Schweizer Fahrenden oder der Verkauf von Kindern aus den Südalpen nach Mailand, wo sie als Kaminfeger arbeiten mussten. Das zeigen fremdenfeindliche, in der politischen Diskussion von der SVP geschürte Vorurteile gegen Einwanderergruppen etwa aus dem Balkan oder die Nichtbeachtung der Menschenrechte in Flüchtlingscamps.

Es gibt verschiedene Strategien, Menschen als «andere» auszugrenzen. Natürlich existiert spezifischer Rassismus gegen Schwarze; aber das Bild ist vielschichtig. Um Rassismus hierzulande aufzudecken und zu bekämpfen, muss man über den spezifischen Kontext nachdenken. «How To Be an Antiracist» kann bestenfalls dazu anregen.

Ibram X. Kendi: How to Be an Antiracist. btb 2020. 416 S., um Fr.34.-, E-Book 20.-.

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